Zeitgutschrift

Ich mag bekanntlich die Berge lieber als das Meer. Trotzdem bin ich aufgrund der geringen Distanz meines ersten Wohnsitzes doch gelegentlich am Wasser. Gerne schaue ich den Booten zu. In jungen Jahren war ich sogar einige Male mit einer Freundin segeln.

Aus irgendeinem Grund verfolgte ich in den letzten Tagen die „Vendee Globe“ , eine Non-Stop Regatta für Einhandsegler, die entlang des Südpolarmeers einmal rund um den Globus führt (ca. 24.000 Seemeilen = 44.448 km). Bis fast zum Schluss lag der Deutscher Boris Herrmann in Führung (der in der letzten Nacht eine Kollision mit einem Fischerboot hatte). Gewonnen hat dann aber ein Franzose, der nach 80 Tage, 3 Stunden, 44 Minuten und 30 Sekunden das Ziel erreichte.

“Funfact“: Am 30. November geriet ein weiterer Franzose in Seenot. Yannik Bestaven, der Sieger, Boris Herrmann und Jean Le Cam beteiligten sich an der Suche und nahmen dafür in Kauf, viele Stunden im Kampf um den Sieg zu verlieren. Das ist für mich mehr als nur „fair Play“!
„Wer Gutes tut, wird auch mal belohnt“ titelt ein Online Nachrichtenportal. Die Stunden, die die Retter mit der Suche nach dem verunglückten Kollegen verbrachten, wurde ihnen „gutgeschrieben“. Der Sieger war also in doppelter Hinsicht ein „Gewinner“! Eine mutmachende Geschichte finde ich…

Der aktuelle Lockdown ist für mich wie ein „time out“. Das ist eigentlich etwas Positives. Ich empfinde es nicht so, dass mir Zeit „gestohlen“ wird, sondern eher Zeit geschenkt, bzw. “gutgeschrieben“ wird.  Ich nutze die/meine Zeit zum Schreiben um mich später im Jahr auf neue Projekte zu stürzen. Ich verstehe allerdings auch gut, wenn sich jemand in dieser Zeit langweilt oder sich sogar einsam fühlt oder ist. Ich habe meine alten Eltern seit Monaten nicht umarmen können, weil wir uns nur per FaceTime treffen.  Aber wir verbringen Zeit miteinander. Jeden Tag.

Ich sah kürzlich einen Film, in dem man mit (Lebens-)zeit bezahlen muss. Im ersten Moment fand ich das etwas schräg, aber es ist eigentlich keine Fiktion. Wir „bezahlen“ doch immer mit Zeit…. bei allem was wir tun. Unsere (Lebens-)Zeit ist nun mal endlich. Nun kann man sich fragen, warum Menschen eine Weltumsegelung ganz alleine unter psychischen und physischen Strapazen und unter großer Gefahr über Monate hinweg durchziehen. „Verschwenden“ sie ihre Zeit? Ich habe keine Antwort darauf, denn jeder ist sein eigener „Timekeeper“.

Ich kenne viele Menschen, die „Zeit-Verschenker“ sind. Sie kümmern sich ehrenamtlich um Notfallseelsorge, Integration, alte Menschen, bringen Kindern lesen bei oder gehen für die Nachbarn einkaufen. Fragt man die Zeit-Verschenker, warum sie das tun, hört man sehr oft ähnliche Antworten: ….weil man es doppelt zurück bekommt, weil die Zeit „gutgeschrieben“ wird, weil man etwas Gutes getan hat. So wie man sich selber oft am meisten freut, wenn man sieht, wie sich der Beschenkte freut.

Fazit: Wäre es nicht schön, wenn wir bei all der Erschwernis des Lockdowns erkennen würden, das unser Zeitkonto so aufgefüllt ist, dass wir sobald es wieder möglich ist gaaaaaaaz viel davon verschenken (und vielleicht unterwegs sogar jemanden retten) können?

Justice League und Superhelden*innen

Nein, das ist nicht der gleiche Trupp! Habe ich mir ausführlich erklären lassen!

Wenn man/Frau mit Begeisterung – so wie ich – die Vereidigung des neuen US-Präsidenten gesehen hat, hat man „gefühlt“ die „Gerechtigkeitsliga“ gesehen. Nach den gruseligen Jahren in denen die Gesellschaft bewusst fragmentiert wurde und dem schrecklichen Angriff auf das Kapitol,  war es meiner Ansicht nach endlich an der Zeit, Menschen zu wählen, für die Moral und Anstand keine Fremdworte sind. Die „Superwomen-Liga“  ( Ex-First Lady, Vize Präsidentin, aktuelle First Lady und die wunderbare Dichterin) begeisterten mich ganz besonders.

Wenn man/Frau die vielen Videos im Internet sieht, in denen nach dem Hit „Jerusalema“ Pflegekräfte, Feuerwehrmänner/-Frauen, Polizistinnen, Mönche und andere Gruppen tanzen, sind das für mich ebenfalls gut gelaunte Superhelden.

Gestern hatte ich eine Superheldin am Telefon. Den Tag zuvor hatte ich, wie Millionen (4,2 Mio Zugriffe!) andere auch versucht online und wechselweise, teilweise parallel, einen Impftermine in NRW für meinen impfberechtigten Vater auszumachen. Um 7:45 Uhr fuhr ich meinen Laptop hoch, aktivierte Handy und iPad. Ein extrem kompliziertes Verfahren, bei dem ich mich sehr konzentrieren musste um einen SMS Pin zu generieren, der mich dann wieder per E-Mail (die ich erst mit dem Pin bestätigen musste) zu zwei 12stelligen Codes (in einer weiteren Mail) führte. Damit konnte ich mich dann auf dem Internetportal der Kassenärztlichen Vereinigung zu einem Impftermin registrieren. Mir zitterten die Hände und um 8:05 hatte ich eine Bestätigung-Mail für den ersten Impftermin. Ich war begeistert und tippte den Code für den zweiten Termin ein….. es war 7 Minuten nach 8 Uhr und die Internetseite brach zusammen. Im 5 Minutentakt versuchte ich es immer wieder. Die Hotline war ebenfalls überlastet…. kein Durchkommen. Bis 22 Uhr versuchte ich mein Glück mindestens 200 mal. Ich war den Tränen nah. Inzwischen meldeten die Medien „Probleme“ bei der Terminvergabe in NRW, nachmittags sprach der Ministerpräsident von „einem gelungenen Start“…Tausende hätten einen Termin erhalten….

Ich mag mir gar nicht die Verzweiflung alleinstehender ältere Menschen vorstellen, die kaum ein Tastentelefon aufgrund von Seh-und/oder Hörproblemen bedienen können….

Am Tag danach dann der Kontakt mit der Superheldin….: Ich versuchte am nächsten Morgen erneut per Telefon (Internetseite immer noch down) den zweiten Termin zu buchen…. dauernd besetzt. Selbes Spiel: ich aktivierte die Wahlwiederholung und war total erschrocken, als ich plötzlich ein Freizeitmensch hatte und mich kurz danach eine sehr freundliche Frau fragte, wie sie mir helfen könne. Binnen weniger Minuten war alles geregelt und ich hatte die Termine komplett. Noch während des Telefonates bekam ich die Bestätigungsmails. Ich hätte heulen können vor Freude…. ich fragte die Dame am Telefon, ob ich noch eine persönliche Frage stellen dürfe. Sie lachte und sagte ja. Meine Frage war, ob sie viel Ärger und Wut abbekommen würde. Nein, sagte sie, aber Trauer und Enttäuschung. Sie versuche ruhig und freundlich zu bleiben falls doch mal jemand meckern würde. Sie habe Verständnis. Es sei halt eine schwere Zeit. Ich dankte ihr und legte glücklich auf.

Fazit: Die Gerechtigkeitsliga hat offensichtlich gerade frei, denn es geht nicht wirklich gerecht zu. Die Schwellenländer haben zum Teil überhaupt keinen Impfstoff. Die Industrienationen haben zu wenig. Und nicht alle Berechtigten haben Hilfe und Unterstützung. Aber jeder von uns könnte zu einem Superhelden werden, wenn er seinen Mitmenschen Hilfe anbietet…!

 

Abkürzungen

Von Abkürzungen halte ich persönlich sehr wenig. Jeden Tag gehe ich mit meiner 14 Jahre alten Hündin Rala einen gepflasterten Weg durch ein Naturschutzgebiet. Deutlich sichtbar gibt es einen Trampelpfad, der die Wegbiegung abkürzt. Ich gehe nie dort lang. Oft ist der Weg matschig, naß, uneben und gefährlich glatt und ich mag keine dreckigen Schuhe oder schwere Stürze.

Ich habe zudem sehr schlechte Erfahrungen mit Abkürzungen gemacht. Als ich ein Kind war musste ich mit meinen Eltern viele Wanderungen machen. Berg rauf, Berg runter (obwohl es einen Lift gegeben hätte!).  Mein Vater, der irgendwann mein permanentes Gequengel leid war, sagte dann oft:…“ ich weiß da eine Abkürzung“, obwohl er die Gegend gar nicht kannte…! Meistens fiel ich darauf herein und wir gingen den Weg, der sowieso angedacht war, oder mein Vater schlug tatsächlich eine „Abkürzung“ ein, die sich aber im überwiegenden Fall als massiver Umweg herausstellte. Was noch mehr Gezeter meinerseits zur Folge hatte.

Egal! Aktuell wollen gerade sehr viele Menschen/Politiker/Entscheider einen „Ausweg aus der Pandemie“. Richtig! Das möchte ich auch! ABER: eine Abkürzung wird uns da kaum helfen, denn leider orientiert sich das COVID Virus nicht an unseren Befindlichkeiten. Gerade werden weiter Maßnahmen und eine Verlängerung des Lockdowns diskutierte. Maßnahmen abzukürzen, führen meiner Ansicht nach zu einer „Verlängerung des Weges aus der Krise“….
Ich lebe in einem Landkreis, der eine Inzidenz von 49 pro 100.000 hat. Das ist im Verhältnis zu anderen Landkreisen sehr gut. Aber eben nur im Verhältnis. Ich fände eine Inzidenz von 0 pro 100.000 sehr viel besser.

Ich gehöre nicht wirklich zu den Menschen, die man als „geduldig“ beschreiben würde, aber manchmal muss man mehr Zeit für einen etwas längeren Weg aushalten, weil eine Abkürzung unter Umständen sogar noch viel länger dauern kann (und ich weiß, wovon ich rede!), oder schlimmer noch: einfach falsch ist! Als ich  ein Kind war musste ich meinem Vater mehr oder weniger gezwungener Maßen auf dem Weg folgen, den er vorgab. Das gefiel mir nicht immer, aber er führte stets zum Ziel.

Ich finde es sehr wichtig, die verschiedenen Möglichkeiten/Wege aus der Pandemie zu diskutieren. Das gehört zu unserer Demokratie. Und natürlich darf jeder (s)eine Meinung dazu haben. Dennoch habe ich keinerlei Verständnis für Regelbrecher! Einmal vereinbarte Wege (die ja immer kontrovers diskutiert werden!) sollten wir gemeinsam gehen und ich lehne es ab, dass Einige meinen für sie gelte eine Abkürzung (Maskenverweigerung, Party mit vielen Menschen feiern usw.). Denn damit gefährden sie auch die Jenigen, die seit Monaten alles dafür tun nicht an COVID zu erkranken und daran zu sterben. Die Blick auf die übervollen Intensivstationen und die Todeszahlen ist erschreckend, traurig und nicht tolerierbar, denn  es sind Mütter, Väter, Freunde, Großeltern und Partner*innen von so vielen….

Fazit: Abkürzungen sind nicht immer eine Zeitersparnis und führen unter Umständen zu sehr viel Unheil…. und damit meine ich nicht nur dreckige Schuhe…