Free Solo

Wenn ich so wie in den letzten Tagen durch die fränkische Schweiz wandere, sehe ich an vielen Jura-Felsnadeln coole Menschen, die dort angeseilt klettern. Ich habe das (in einer Halle) auch schon mehrfach geübt und ist mega anstrengend, macht aber richtig Spaß… naja, mir jedenfalls. Für Menschen mit Höhenangst ist das eher nichts…Ich musste mich sehr konzentrieren und auf meinen “Wingman” vertrauen. Er würde die Sicherungsleine halten, wenn ich abrutschen würde. Eigentlich war das die größte Herausforderung für mich.

Es gibt einen wirklich tollen Film über den „Extremsportler“ Alex Honnold, der „Free Solo“ – also im Alleingang ohne Sicherung (!) die 975 Meter hohe Steilwand „El Capitan“ in Kalifornien in nur 3 Stunden und 56 Minuten erkletterte. Ich träumte nächtelang von diesem Film.

In den letzten Tagen sprach ich mit verschiedenen Menschen über ihre Erlebnisse in der Pandemie und bei einigen Aussagen dachte ich an „Free Solo“…. im Alleingang, ohne Sicherung ohne “Wingman”…. Ich hörte von Menschen, die immer noch einsam in den Senioreneinrichtungen sind, weil die Kontaktbeschränkungen sehr ernst genommen werden und noch immer keine größeren Gemeinschaftsveranstaltungen oder Feiern möglich sind. Ich hörte von Männern und Frauen, die seit Monaten im Homeoffice sind, und ihre Kollegeninnen und Kunden nur via Zoom oder Teams am PC gesehen haben. Ich hörte von Frauen, die ihre gerade geborenen Enkelkinder nur eingeschränkt sehen konnten. Ich dachte an meine alten Eltern, die ich erst vor ein paar Wochen nach 7 Monaten wieder gesehen habe. Und ich denke an meinen Sohn, den ich jetzt über ein Jahr nicht gesehen habe.

Free Solo…. Viele von uns haben teilweise einen Alleingang hinter sich. Emotional oder real. Viele ungesichert! Und einige sind leider abgestürzt. Ich denke dabei ein psychisch Erkrankte, Menschen die sowieso schon wenig soziale Kontakte hatte, Kinder  und Jugendliche aus sozial schwierigen Verhältnissen, Obdachlose oder andere Gruppen von Mensch, die schon immer nicht sozial und auch finanziell „gesichert“ waren.
Mittlerweile haben wir fast 90.000 Tote und unzählige Genesene mit Langzeitschädigungen/Long COVID. Ungesichert. Alleine.

Alex Honnold könnte man für leichtsinnig oder verrückt halten. Ich denke er ist beides nicht. Im Gegenteil. Seiner Free Solo Tour ging eine monatelange, sehr detaillierte Planung voraus.  Er probte viele Male, arbeitet Schritte, Drehungen und Griffe aus und scheitert, war kurz vor dem aufgeben und bekam Unterstützung von seiner Freundin und Familie. Er war sich aber sehr im Klaren darüber, das nur ein Fehler, eine Ungenauigkeit oder nur eine Sekunde Unkonzentriertheit seinen Tod bedeuten konnte. Einige seiner Kletterkollegen überlebten solche Touren nicht. Er muss ein unglaubliches Selbstvertrauen gehabt haben ( obwohl er in dem Film auch oft von Zweifeln spricht).

Ich würde mir wünschen, das es für jeden, der in diesem Leben “Free Solo” unterwegs ist (aus welchen Gründen auch immer), einen vertrauenswürdigen “Wingman” gibt, bei dem man sich sicher sein kann, das er das Seil hält. Diese furchtbare Pandemie hat sehr viel Leid gebracht. Ich will darauf hoffen, das wir daraus lernen und in Zukunft einiges besser machen.

Allzeit bereit…

…“semper paratus“ wie der alte Lateiner sagt.

Grundsätzliche Frage: Wer ist das schon??? Fakt ist: Ich war nicht bereit…., nicht für die Pandemie mit all ihren Einschränkungen und Folgen. Ich befinde mich damit in guter Gesellschaft, denn die ganze Welt war nicht gut (genug) vorbereitet. Wie auch?

Ich schaue gerne Endzeitfilme, Apokalypse-Thriller und andere gruselige Dramen. Keine Ahnung warum. Vielleicht weil ich dann die Sicherheit genieße, das das alles eben nur ein Fiktion ist/war….

Es ist erschreckende und traurige Realität geworden, was in den Filmen dargestellt wurde. Wir haben Millionen von Toten zu beklagen. Es gibt soziale, finanzielle und zwischenmenschliche Dramen, die ich nicht mal erahne, die sich teilweise sehr nahe teilweise auf anderen Kontinenten immer noch abspielen.

Ich hatte in den letzten Tagen die Gelegenheit mit Menschen zu sprechen, die noch einmal einen ganz anderen Blick auf die Geschehnisse haben. Ein Priester und zwei LehrerInnen. Grundlage der Gespräche war die eigene Wahrnehmung auf die Pandemie, die Erlebnisse und das, was wir daraus gelernt haben. Ich habe in den Gesprächen immer wieder gesagt, dass die Pandemie wie ein Brennglas wirkt. All das, was sonst nur verdeckt ans Tageslicht kam wurde und wird offenbar. Oft die Defizite. Manchmal auch die positiven Dinge.

Mein Sohn sagt oft, das jeder in seiner eigenen „Bubble“ lebt. Und da hat er Recht. Ich nehme das wahr, womit ich mich umgebe. Wenn ich z.B. auf meine Timeline in den sozialen Medien schaue, befinden sich dort überwiegend Posts, die ich befürworte (das hat natürlich auch mit dem Algorithmus zu tun). Ich schmeiße konsequent alle Follower raus, die rassistische, homophobe, rechtsradikale oder gewaltverherrlichende Dinge posten. Und das werde ich auch weiterhin tun. Aber das schränkt natürlich meinen Blickwinkel ein, weil ich immer das höre, lese und sehe, was ich eh schon denke und empfinde. Die Frage ob ich „bereit“ bin, über meinen Horizont hinaus zu schauen, kann ich dennoch mit “ja“ beantworten (…ich versuche es). Ich entwickele eine Haltung zu gesellschaftlichen und politischen Themen, auch wenn ich Posts lösche, die nicht meinen Werten entsprechen. Ich bin bereit für einen Dialog, aber nicht bereit unreflektiert Meinungen zu übernehme und zu tolerieren.

Ich bin nicht bereit, noch mehr Tote und Langzeiterkrankte durch die Pandemie zu betrauern. Ich hoffe und wünsche, dass wir endlich zur „Normalität“ zurück kehren können. Und ich bin nicht bereit die schlechten Gepflogenheiten wieder auf zu nehmen. Wenn wir schon diese vielen furchtbaren Geschehnisse hinnehmen mussten, sollten wir alle doch zu mindestens bereit sein die durch das Brennglas sichtbar gewordenen negativen Dinge zu verändern.

“Allzeit bereit“ etwas neu zu betrachten. Gar nicht so einfach. Als ich vor ein paar Tagen in meiner Lieblingsstadt Bamberg war, um eine Freundin zu besuchen, fuhr ich durch ein Wohngebiet, das mir auch als früherer Arbeitsweg vertraut war. Alles sah für mich verändert aus. Meine Freundin begrüßte mich sehr herzlich und bat mich ins Haus. Früher betrat ich ihr Zuhause durch einen wunderschönen Garteneingang. Das ist über dreißig Jahre her. Für den Moment war ich überrascht, da meine Sichtweise verändert wurde. Es dauerte einen Moment bis ich bereit war, diese neue Perspektive zuzulassen. Wir Menschen neigen dazu, alte Perspektiven bei zu behalten. Das gibt uns Sicherheit, engt aber auch ein. Als ich bereit war, eine neue Perspektive einzunehmen, eröffnete sich mir ein neuer, schöner Horizont.

Friedhof

Mein Opa starb vor fast fünfzig Jahren. Seine Frau, meine Oma vor vierzig Jahren. Die Grabstätte musste teuer von der Friedhofsverwaltung der Gemeinde gekauft werden. Meine Eltern pflegten über all die Jahrzehnte liebevoll das kleine Stück Land. Ich verstand nicht, warum es so wichtig war immer frische Blumen und jahreszeitliche Bepflanzung rechtzeitig auszuführen.

Als meine Eltern vor fast drei Jahren beide zeitgleich im Krankenhaus lagen, fragten sie mehrfach, „ob auf dem Friedhof alles in Ordnung wäre“. Eine Nachbarin rief an und fragte, ob bei uns alles in Ordnung wäre. Der Friedhof sehe so „krautig“ aus…. das würde man von meinen Eltern nicht kennen.

Die gepflegte Grabstätte von Familienangehörigen scheint ein gesellschaftlicher Indikator zu sein. In der Gemeinde und bei den Freunden meiner Eltern wurde oft über den Friedhof, die Bepflanzung, riesige Grabsteine (sofern von der Gemeinde zugelassen, denn es gibt ja eine Friedhofsordnung…!) und den Grad der Pflege der kleinen „Gärten“ gesprochen….

Bei meinem letzten Besuch bei meinen Eltern erklärte mir meine Mutter, dass sie jetzt die Gräber ihrer Eltern „liegenlassen“ wolle. Damit ist das Entfernen der Bepflanzung und der Steine gemeint. Danach wird die Stelle eingesät und kann von anderen Särgen neu „belegt“ werden.

Ich war schockiert. Die Grabpflege war immer eine wichtige Routine. Ich fragte meine Mutter, ob das denn für sie nicht schmerzhaft sei. „Nein, meine Eltern sind da nicht mehr. Sie sind in meinem Herzen und im Himmel.“ Mir kamen die Tränen….

Ich habe nur liebevolle Erinnerungen an meine Großeltern. Ich bat meine Mutter mit mir ein letztes Mal zum Friedhof zu gehen. Als ich vor dem Grabplatz stand, hatte ich viele Bilder von und mit meinen Großeltern vor Augen. Mein Opa, wie er mit mir am Tisch saß und mich beim „Mensch ärgere dich nicht“ Spiel gewinnen ließ. Meine Oma, wie sie Suppe für uns kocht und wie sie mir aus einem dicken Märchenbuch vorliest. Schöne Erinnerungen, bei denen mir die Tränen in die Augen steigen…

Ja, meine Mutter hatte Recht. Auf dem kleinen „Gottesacker“ sind meine Großeltern nicht mehr. Sie sind in meinen Erinnerungen und in meinem Herzen.

In Hamburg, also nicht weit von mir, gibt es den größten Park-Friedhof der Welt – Ohlsdorf (388 Hektar).  Viele Prominente sind dort begraben. Hans Albers, Gustav Gründgens, Loki und Helmut Schmidt, Inge Meisel, Roger Willemsen, Heinz Erhardt und viele mehr.

Fast bin ich geneigt zu sagen, es ist eine “Stadt der Toten” (1,4 Mio. Beisetzungen!!!). Das greift aber viel zu kurz! Denn es ist ein sehr lebendiger Ort. Es gibt sehr viel Kunst (Baukunst und Skulpturen), Sehr viel Natur (450 Laub- und Nadelholzarten, seltene Vögel wie Eisvögel und Waldkauz) und ein Friedhofsmuseum (sehr interessant!).

Am meisten beeindruckt mich die “Ordnung”. Es gibt unterschiedliche Bereiche für: vorgeschichtliche Gräber, Gedenkplatz für nicht beerdigte Kinder, Garten der Frauen, Memento e.V. Grabstätten (für AIDS Verstorbene), Feuerwehr- und Polizeigräber, Sturmflutopfer-, Bombenopfer- Revolutions- und Opfer der NS Verfolgung. Soldatengräber für die beiden Weltkriege und für unterschiedliche Nationen (Britische und Deutsche Soldaten und andere Nationen, sowjetische Kriegsgefangenen und natürlich ein Erinnerungsmal an jüdische Opfer. Der jüdische Friedhof grenzt direkt an. Ein Bereich für islamische Beisetzungen ist ebenfalls vorhanden.

Ich erinnerte mich an einen Spaziergang über diesen Friedhof, als ich vor dem Grab meiner Großeltern stand. Orte wie diese sind wichtig und gut. Wir können dort Abschied nehmen und trauern. Wenn der Grabplatz mit Rasen eingesät ist, werde ich sie immer in meinem Herzen haben.